Grenzverletzende Kinder

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Sexuell grenzverletzende Kinder

zusammengestellt von Mag. Nora Leitner

Sowohl Kriminalstatistiken (laut denen 4% aller 2010 in Deutschland erfassten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wurden von Kindern begangen, wobei die Gruppe der 12 bis 14 Jährigen besonders stark repräsentiert ist) als auch Berichte aus der Fachpraxis (die einen Anstieg von Anmeldungen von sexuell grenzverletzenden Kindern in Fachberatungsstellen verzeichnen) weisen auf einen deutlichen Anstieg von sexuellen Grenzverletzungen zwischen Kindern hin.

 

Ungeachtet der Tatsache, ob es heut zu Tage tatsächlich mehr sexuell grenzverletzende Kinder gibt oder das größere Bewusstsein in der Bevölkerung zu vermehrten Anzeigen und zu einem vermehrten Bedarf an psychologischer Beratung  führt, erscheint eine  differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Thematik mehr als wünschenswert. Eine solche führt aber zwangsläufig zu der Frage, wodurch sich kindlich-angemessene Sexualität von missbräuchlicher bzw. übergriffiger unterscheidet. Generell wird im derzeitigen wissenschaftlichen Diskurs davon ausgegangen, dass sexuelle Verhaltensweisen von Kindern auf einem Kontinuum anzusiedeln sind, das zwischen entwicklungsgemäßen Verhalten und sexuell aggressiven Aktivitäten lokalisierbar ist*1.

Definition (-sversuche)

„Sexuell auffälliges Verhalten im Kindesalter (<12 Jahre) beinhaltet die Initiierung von Verhaltensweisen, die auf Geschlechtsorgane gerichtet sind (Genitalien, Anus, Hoden oder Brust), die entweder nicht einer altersgemäßen Entwicklung entsprechen oder potenziell schädigend für das Kind selbst oder für andere sind“  (*2 S. 200)

„Bei sexuellen Übergriffen unter Kindern werden sexuelle Handlungen unfreiwillig, d. h. mit Druck durch Versprechungen, Anerkennung etc. oder körperlicher Gewalt ausgeübt. Die Voraussetzung dafür ist, dass es ein Machtgefälle zwischen den beteiligten betroffenen und übergriffigen Kindern gibt“ (*3 S.21).

Beide Definitionen legen nahe eine Stigmatisierung durch die Verwendung der Begriffe Täter und Opfer zu vermeiden und stattdessen von  sexuell grenzverletzenden (bzw. sexuell übergriffigen Kindern bzw. Kindern mit sexuellen Verhaltensauffälligkeiten) und betroffenen Kindern zu sprechen. Fasst man die beiden Definitionen in wenigen Worten zusammen, so sind sexuelle Grenzverletzungen durch Kinder einerseits durch die potentielle Schädlichkeit andererseits durch Unfreiwilligkeit, die Ausübung von Zwang und die Ausnützung eines Machtgefälles gekennzeichnet. Für eine erste diagnostische Einschätzung greifen diese Definitionen aber wohl zu kurz, weshalb die Beantwortung nachfolgender Leitfragen sehr hilfreich und sinnvoll erscheint.

Leitfragen zur Feststellung von sexuellen Grenzverletzungen durch Kinder*1:

Sofern andere Kinder beteiligt sind *2 *3:

Bevor auf eine umfassende diagnostische Abklärung eingegangen wird, sollen zunächst weitere Risikofaktoren für die Entstehung sexueller Verhaltensauffälligkeiten erläutert werden, welche insbesondere bei der Auswahl geeigneter Interventionsmethoden berücksichtigt werden sollten.

Ursachen für sexuelle Verhaltensprobleme bei Kindern:

1. Gewalt

a.) Sexuelle Gewalt

b.)  Physische und psychische Gewalt

2. Life Events

3. Familiäre Situation

4. Geschlecht & Alter

(Mädchen: eher Probleme mit Grenzen & pseudoreifes Bindungsverhalten,

Buben: eher emotional zurückgezogen, abnormes Bindungsverhalten, abnorme Reaktionen auf Schmerz)

5. Medien

6. Besondere Gefährdungskontexte

Viele Kinder im stationären Jugendwohlfahrtskontext scheinen sexuelle Aktivitäten einerseits zu nutzen um Gefühle von Verlassenheit, Schmerz, Trauer, Angst und Hoffnungslosigkeit zu bewältigen. andererseits sehen sie sexuelle Annäherung oft als die einzige Möglichkeit mit anderen Kindern in Verbindung zu treten. Da bei diesen Kindern neben den sexuellen Verhaltensauffälligkeiten häufig auch andere komplexe psychopathologische Problemstellungen vorliegen, führt das Auftreten sexueller Grenzverletzungen in solchen Institutionen häufig zu einem Abbruch der Betreuungsverhältnisse, wodurch ein Teufelskreis in Gang gesetzt wird. Die Kinder, deren Leben ohnedies durch Beziehungsabbrüche gekennzeichnet sind, erleben abermals eine Zurückweisung. Diesen Mangel an Bindung versuchen diese Kinder (wie bereits zu Beginn beschrieben) in weiterer Folge auf sexueller Ebene auszugleichen bzw. auszuagieren.

Generell unterscheiden sich Kinder die ihren Geschwistern gegenüber sexuell übergriffig werden nicht von anderen sexuell auffälligen Kindern (Abwesenheit von Elternteilen, feindselige Familienatmosphäre, vielfache körperliche und emotionale Missbrauchserfahrungen). Es ist aber anzunehmen, dass es hier eine besonders große  Dunkelziffer gibt, da sexuelle Interaktionen unter Geschwistern einerseits häufig nicht kontrolliert und beendet werden und andererseits häufig nach außen hin geheim gehalten bzw. bagatellisiert werden.

Erklärungsmodelle:

Neue wissenschaftliche Erklärungsmodelle integrieren lerntheoretische mit bindungstheoretischen Modellen, wonach sexuelle Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern durch ein komplexes Wechselspiel von familiären Verhältnissen (geprägt von Brüchen, Gewalt, und/oder Drogenmissbrauch), selbst erlebter sexueller, physischer und psychischer Gewalt und sexualisierter Copingstrategien entstehen und als Versuch verstanden werden können  unzureichende interpersonelle Bindungen durch Ausagieren auf sexueller Ebene zu kompensieren.

Diagnostik & Intervention:*1*2:

a.) Diagnostik

Eine ausführliche diagnostische Abklärung dient einerseits dazu festzustellen, ob ein Bedarf nach Behandlung und Intervention vorliegt, welche Art von Intervention zu empfehlen ist und stellt andererseits eine Entscheidungshilfe bezüglich einer Fremdunterbringung dar.

b.) Intervention

Generell scheinen Kognitiv-Behaviorale Therapieansätze unter starkem Einbezug der Eltern/Bezugspersonen am erfolgreichsten zu sein (z. B..: Gruppenbehandlung von Vorschulkindern mit sexuellen Verhaltensproblemen, Stop- & Think- Modell, Kognitiv-Behaviorale Gruppentherapie für nicht-missbrauchende Mütter und ihre sexuell missbrauchten Kinder, Multisystemische Therapie, vgl. dazu *1), wobei nachfolgende Behandlungselemente besonders wichtig zu sein scheinen:

(1) Kind bezogene Komponenten:

(2) Elternbezogene Komponenten:

Sind sexuell auffällige Kinder die „Täter von morgen“?*1*3

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sexuell verhaltensauffällige Kinder NICHT generell als Risikogruppe auch im Erwachsenenalter Sexualdelikte zu begehen angesehen werden können. Wesentlich dabei ist allerdings, dass Kinder mit sexuellen Verhaltensauffälligkeiten einer adäquaten Behandlung zugeführt werden. Geschieht dies nicht oder werden eingeleitete Behandlungsmaßnahmen abgebrochen besteht sehr wohl ein erhöhtes Risiko für persistierende sexuelle Auffälligkeiten. Bezüglich der Behandlung dieser Kinder ist es zudem besonders wichtig, dass die gesamte Bandbreite psychopathologischer Belastungen (vgl. dazu Ursachen für sexuelle Verhaltensprobleme), die auf sexuell auffällige Kinder einwirken, bei der Planung und Einleitung von entsprechenden Interventionen berücksichtigt werden.

Und was ist mit den Opfern?*1*3

Abgesehen davon, dass die kindlichen Opfer von sexuellen Übergriffen selbst sexuelle Verhaltensauffälligkeiten zeigen, ist bis dato sehr wenig über die Auswirkungen bekannt, die sexuelle Übergriffe von Kindern an anderen Kindern nach sich ziehen. Einige Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass sexuelle Übergriffe zwischen Kindern als gleich belastend erlebt werden, als durch erwachsene Täter, wiederum andere betonen die Abhängigkeit der Auswirkungen von spezifischen Faktoren, wie das Ausmaß des Zwangs, dass das übergriffige Kind dem betroffenen Kind gegenüber anwendet, sowie das Vorliegen gleichgeschlechtlicher Interaktionen und ob die involvierten Kinder befreundet sind.

Quellen: 
*1 Mosser, P. (2012). Sexuell grenzverletzende Kinder – Praxisansätze und ihre empirischen Grundlagen [On-Line]. DJI e. V. München. Verfügbar unter: http://www.dji.de/izkk/MosserExpertiseDJIGesamt.pdf [Stand: 11.09.2012].

*2 Chaffin, M., Berliner, L., Block, R., Cavanagh Johnson, T., Friedrich, W.N., Garza Louis, D., Lyon, T.D., Page, I.J., Prescott, D.S. & Silovsky, J. F. (2008). Report of the task force on children with sexual behavior problems. Child Maltreatment, 13 (2), 199-218.

*3 Freund, U. & Riedel-Breidenstein, D. (2004). Sexuelle Übergriffe unter Kindern. Handbuch zur Prävention und Intervention. Köln: Mebes & Noack.