Gewaltprävalenzstudie

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Gewaltprävalenzstudie des Österreichischen Instituts für Familienförderung

zusammengestellt von Mag. Martina Kainbacher

Olaf Kapella und seine KollegInnen vom Österreichischen Familienforschungsinstitut präsentierten Ende 2011 die Ergebnisse der ersten groß angelegten Gewaltprävalenzstudie Österreichs.

Bisher konnten hierzulande nur Anzeigen- und Gerichtsstatistiken herangezogen werden um einen Überblick über das Ausmaß von Gewalt in der Familie und im nahen Umfeld zu erlangen. Diese Studie deckt nun aber einen deutlich größeren Teil des Dunkelfelds auf. Gerade durch die fortschrittliche Kombination von face-to-face-Befragungen sowie Online-Befragungen konnten viele Personen ihre Hemmungen überwinden und Erfahrungen schildern, die sie ansonsten eher für sich behalten. Befragt wurde eine repräsentative Stichprobe von ÖsterreicherInnen; insgesamt waren es 2300 Personen im Alter von 16 bis 60 Jahren.

 

Gewalthandlungen wurden definiert als Handlungen, die von den Befragten als Angst machend oder bedrohlich erlebt werden. In der Studie wurde zwischen verschiedenen Formen von Gewalt unterschieden, nämlich zwischen psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt.

 

Tabelle

Abb. 1, nach Kapella et al. (2011), Prävalenz von Gewalterfahrungen in der Kindheit in Prozent


Bei den abgefragten Gewalterfahrungen in der Kindheit zeigt sich ein sehr hohes Ausmaß an Betroffenen. Etwa Dreiviertel aller Befragten Personen gaben an, dass sie psychische und/oder körperliche Gewalt in ihrer Kindheit erfahren hatten. Als Kindheit wurde der Zeitraum bis zum 16. Lebensjahr definiert. Bei sexueller Gewalt zeigen sich - im Gegensatz zu psychischer und körperlicher Gewalt, wo Frauen und Männer gleich betroffen waren - klare geschlechtsspezifische Unterschiede: Doppelt so viele Frauen wie Männer waren in ihrer Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt.

Wurde als Kind Gewalt erlebt, so handelte es sich meist nicht um eine einzige Form der Gewalt, sondern um Kombinationen aus den verschiedenen Gewaltformen. In nahezu sechs von zehn Fällen haben die Gewalterfahrungen sowohl eine psychische als auch eine körperliche Komponente. Bei sexueller Gewalt zeigt sich deutlich, dass diese fast immer nur in Kombination mit den anderen beiden Gewaltformen auftrat. Gar keine Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit machten nur 13,4 % der befragten Frauen und 16,0 % der befragten Männer. Diese Personengruppe gab an keine angstmachenden oder bedrohlichen Handlungen bis zu ihrem 16 Lebensjahr erlebt zu haben.

Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der Studie von Kapella et al. ist, dass sich das Ausmaß der berichteten Gewalt zwischen den befragten Altersgruppen stark unterscheidet: Ältere Menschen haben signifikant mehr Gewalt in ihrer Kindheit erlebt, als jüngere Menschen. Dies zeigt sich bei der körperlichen Gewalt in einem starken Rückgang von 25-30 Prozentpunkten im Vergleich zwischen der ältesten und der jüngsten Altersgruppe. Bei der sexuellen Gewalt haben sich die berichteten Übergriffe im Vergleich zwischen der ältesten zur jüngsten Altersgruppe sogar halbiert

Auch was die in Anspruch genommene Hilfe bei Gewalt in der Familie und im nahen Umfeld betrifft zeigte sich, dass jüngere Personen häufiger Hilfe in Anspruch genommen haben. Erlebte Gewalt wird also von jüngeren Personen stärker kommuniziert und enttabuisiert, als dies bei der älteren Generation der Fall ist.

Ein Grund für die Unterschiede im Altersvergleich, die für eine gesellschaftliche Veränderung über die Zeit sprechen, dürfte sein, dass sich die Akzeptanz von körperlicher Züchtigung in der Erziehung im Laufe der letzten Jahrzehnte stark verringert hat. In großen Teilen Europas zeichnet sich ein fortschrittlicher Wertewandel ab, welcher durch gesetzliche Gewaltverbote und Aufklärungskampagnen maßgeblich unterstützt werden kann. Es findet also eine positive Entwicklung in Richtung einer gewaltfreieren Gesellschaft statt, die weiterhin bewusst gefördert werden soll.

 

Entwicklung von Gewalt in der Erziehung – Wirkung von Körperstrafen-Verboten

Österreich nimmt, was die rechtliche Verankerung von Gewaltlosigkeit in der Erziehung betrifft, eine deutliche Vorreiterposition ein: Als viertes Land weltweit machte Österreich - nach Schweden(1979), Finnland (1983) und Norwegen (1987) - das absolute Gewaltverbot in der Erziehung gesetzlich geltend.

Das absolute Gewaltverbot in der Erziehung wurde in Österreich mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz bereits im Jahre 1989 eingeführt: „Die Eltern haben bei ihren Anordnungen und deren Durchsetzung auf Alter, Entwicklung und Persönlichkeit des Kindes Bedacht zu nehmen; die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen oder seelischen Leides sind unzulässig.“ (§ 146a, Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch).

Bussmann, Erthal und Schroth (2008) haben einen Vergleich zwischen fünf europäischen Ländern herangezogen, um die Wirksamkeit solcher Gewaltverbote näher zu betrachten. Schweden, Österreich, Spanien, Frankreich und Deutschland wurden als Stichprobe ausgewählt, da diese Länder die heterogene Rechtslage in Europa widerspiegeln: Schweden, Österreich und Deutschland verfügen bereits über ein gesetzliches Verbot von Gewalt in der Erziehung; Schweden seit 1979, Österreich seit 1989 und Deutschland seit 2000. Gerade in Schweden, wo bereits 1979 die Ächtung von Gewalt rechtlich verankert wurde, wird dieser Tatbestand in regelmäßigen Abständen mit Aufklärungskampagnen und Aktionen im Bewusstsein der Bevölkerung gehalten. Auch in Deutschland wird großer Wert auf Aufklärung der Bevölkerung gelegt. In Österreich wurden die Gesetzesänderungen weniger ausführlich öffentlich kommuniziert, da es auch keine expliziten Aufklärungskampagnen gab.

Spanien und Frankreich hatten zum Zeitpunkt der Befragung kein gesetzliches Gewaltverbot verankert, unterschieden sich aber hinsichtlich der Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung über die Schädlichkeit von Körperstrafen. In Frankreich sind Körperstrafen nicht gesetzlich verboten und es gibt im Gegensatz zu Spanien auch keine landesweiten Aufklärungskampagnen. Seit 2008 müssen nun auch in Spanien Eltern in der Erziehung ihrer Kinder laut Gesetz die „physische und psychische Unversehrtheit berücksichtigen“.

Bussmann et al. befragten in ihrer Studie pro Land 1000 repräsentativ ausgewählte Elternpaare mittels face-to-face-Interviews. Aufgrund der Ergebnisse wurden drei verschiedene Erziehungstypen ermittelt.

 

Tabelle

Abb. 2, nach Bussmann et al. (2008), Erziehungstypen im Ländervergleich in Prozentangaben

 

In der Vergleichsstudie zwischen den europäischen Ländern zeigte sich klar der bewusstseinsbildende Effekt eines gesetzlichen Gewaltverbots. Während in Schweden, nur noch rund 4 % der Eltern einen gewaltbelasteten Erziehungsstil praktizieren, sind es in Österreich und Deutschland rund 14 % der Eltern. Die Österreicher und Deutschen erziehen ihre Kinder größtenteils konventionell. In Frankreich und Spanien ist es mit fast der Hälfte der Eltern noch die Mehrheit, welche eine gewaltbelastete Erziehung anwendet.

In Österreich vertreten etwa 30 % der Eltern eine gewaltfreie Erziehung, was auch durch die Befragung von Jugendlichen 2009 bestätigt wurde. Dreiviertel der schwedischen Eltern praktizieren eine körperstrafenfreie Erziehung. In Deutschland sind es, ähnlich zu Österreich, etwa 28 %. Spanien weist einen Anteil von ca. 16 % körperstrafenfreier Erziehung auf. Frankreich hat mit rund 8 % im Vergleich den geringsten Anteil an Eltern, die ihre Kinder körperstrafenfrei erziehen.

Ursachen für die noch zu häufig vorkommende Gewaltanwendung in der Erziehung sind meist eine Überforderung der Eltern und deren eigene Gewalterfahrungen. Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen erlebter erzieherischer Gewalt und dem eigenen Gewaltverhalten: Die Wahrscheinlichkeit selbst gewalttätig zu werden steigt, wenn man selbst familiäre Gewalt erlebt hat. Als Gründe für diesen Zusammenhang sind vor allem grundlegende sozialpsychologische Phänomene wie das Modelllernen nach Bandura (1977) anzunehmen. Man lernt dabei von (erwachsenen) Vorbildern und ahmt deren Verhalten nach.

Die Studie von Bussmann et al. (2008) bestätigt klar die langfristige Wirkung eines gesetzlichen Gewaltverbots, welches von Informations- und Aufklärungskampagnen über die Schädlichkeit von Körperstrafen begleitet werden sollte. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass Eltern eine körperstrafenfreie Erziehung einsetzen und in weiterer Folge auch deren Kinder weniger gewaltbereit agieren. Das Gewaltaufkommen könnte somit gesenkt werden und der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden. Zur Annäherung an eine gewaltfreie Gesellschaft sind also rechtliche Verbote von Gewalt in der Erziehung mit zielführend.

ExpertInnen sehen weiters einen deutlichen gesellschaftlichen Veränderungsbedarf, gerade in der Verantwortlichkeit des Einzelnen. Man solle generell mehr „hinschauen“ als „wegschauen“ und das soziale Verantwortungsgefühl des Individuums muss gestärkt werden. Familien mit Gewaltproblematik sollen nicht allein gelassen werden und man soll als Betroffener auch keine Scheu davor haben professionelle Hilfe bzw. Beratung in Anspruch zu nehmen.

 

Literatur:

Bandura, A. (1977). Social Learning Theory. New York: General Learning Press.

Bussmann, K.-D., Erthal, C. & Schroth, A. (2008). Wirkung von Körperstrafenverboten - Ergebnisse der europäischen Vergleichsstudie zu den „Auswirkungen eines gesetzlichen Verbots von Gewalt in der Erziehung“, Recht der Jugend und des Bildungswesens,(4) 2008, 404-422.

Kapella, o., Baierl, A., Rille-Pfeiffer, C., Geserick, C., Schmidt, E.-M. & Schröttle, M. (2011). Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld. Österreichische Gewaltprävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern. ÖIF Forschungsbericht. Wien.

http://www.bmwfj.gv.at/Familie/Gewalt/Documents/Gewaltpraevalenz_final.pdf (Online-Version der Studie, Stand 20.05.2012)